„Die literarische Entwicklung in der DDR ist eine Emanzipationsbewegung, in der sich über vier Jahrzehnte ernstzunehmende Literatur aus einem didaktischen Gestus löste“, sagt die Leipziger Schriftstellerin, langjährige VS-Vize und ver.di-Kulturbeauftragte Regine Möbius. 30 Jahre nach dem Mauerfall beschreibt sie, dass die „Literaturgesellschaft“ mit Riesenauflagen bedacht wurde, wie und zu welchem Ende Schriftsteller*innen die ihnen zugedachte Rolle als „Kulturvermittler“ verweigerten oder wahrnahmen.
24. September 2019 von Regine Möbius
In der DDR war von Beginn an versucht worden, die Literatur zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, die die ganze Bevölkerung beachtet und bewegt. Der offiziell genutzte Begriff „Literaturgesellschaft“ – zurückgehend auf Johannes R. Becher – sollte signalisieren, dass Literatur vergesellschaftet wurde, das heißt, es wurde von ihr erwartet, dass sie lesbar, zugängig und in bestimmter Weise wirksam ist. Die einzelnen Schriftsteller*innen, Genres, Werke, Motive, ästhetischen Mittel haben, so der Schriftsteller Becher, der 1954 erster Kulturminister der DDR wurde, über alle Zeiten und Grenzen hinweg schon immer in einem gesellschaftlichen, kommunikativen und einander befruchtenden Austausch gestanden. Planziel war die gebildete Nation mit sozialistischem Vorzeichen. Um Literaturproduktion möglichst umfassend kontrollieren zu können, wurden die größeren Verlage in der DDR in Volkseigentum übergeführt oder in organisationseigene Strukturen, das heißt, sie waren im Besitz von Parteien und Massenorganisationen. So gehörte zum Beispiel der Dietz Verlag der SED, der Union Verlag der CDU, der Verlag der Nationen der NDPD, der Buchverlag Der Morgen der LDPD, der Tribüne-Verlag dem FDGB, Neues Leben der FDJ, Volk und Welt der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und der Aufbau-Verlag dem Demokratischen Kulturbund.
Die Verlage brachten im Jahr über 6.000 Titel in einer Gesamtauflage von rund 150 Millionen Büchern heraus. Somit entfiel auf das einzelne Buch eine Durchschnittsauflage von fast 25.000 Exemplaren. Dabei ging es den Ideologen nicht vorrangig um Werbung für das Buch als Literaturgut, sondern auch um propagandistische Einflussnahme. Unter diesem Gesichtspunkt ist einleuchtend, warum Werke von Kafka, Musil oder Joyce nur schleppend den Weg in die Verlage fanden.
Kennzeichnend war, dass die DDR-Kulturpolitik den oder die Schriftsteller*in nicht vorrangig als künstlerisches Individuum verstand, sondern als in die Gesellschaft eingebundene*n Kulturvermittler*in. Diese Vorstellung trieb teilweise merkwürdige Blüten. So hatten etwa 1955 die Kumpel des Braunkohlewerkes Nachterstedt – zu bezweifeln ist, dass sie es freiwillig taten – einen offenen Brief an die Schriftsteller*innen im Land geschrieben, in dem sie forderten: „Wir möchten mehr Bücher über den gewaltigen Aufbau, der sich auf allen Gebieten der Deutschen Demokratischen Republik vollzieht, über das Schaffen und Leben der Werktätigen. Schreiben Sie und gestalten Sie den werktätigen Menschen so, wie er ist, von Fleisch und Blut, wie er arbeitet, liebt und kämpft …“
Noch im gleichen Jahr wurde, um ideologische und künstlerische Maßstäbe in Einklang zu bringen, in Leipzig das Institut für Literatur Johannes R. Becher gegründet nach dem Vorbild des Gorki-Instituts in Moskau.
Bis 1969 hatten bereits 113 angehende Schriftsteller und Schriftstellerinnen das Institut absolviert, dazu gehörten bekannte Autor*innen wie Kurt Bartsch, Adolf Endler, Rainer und Sarah Kirsch, auch unser späterer VS-Vorsitzender Erich Loest studierte dort. Ralph Giordano und der Österreicher Fred Wander waren Studenten der ersten Stunde.
Während die erste Hälfte der 1950er-Jahre geprägt war von der Kulthymnik auf Stalin und Ulbricht, hat die Lyrik ein Jahrzehnt später einen ganz anderen Charakter. Georg Maurer, Professor am Literaturinstitut, postulierte: „Nicht Gefühle über Dinge sagen, sondern die Dinge so sagen, dass sie gefühlt werden können. Nicht eine Sache interessant machen wollen, sondern das Interessante der Sache entdecken, nicht die eigene Begeisterung hinausposaunen, sondern das Hinreißende der Sache zur Sprache bringen.“
Aus diesem Geist heraus lehrte er mit enormem Erfolg, wie die Texte seiner Studierenden bezeugen; u. a. Volker Braun, Adolf Endler, Heinz Czechowski, Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel u. v. m.
Mit einer besonderen Form der Literatur gelang es dem 1926 geborenen Schriftsteller Erich Loest, ein Zeugnis zu geben für den Einzelnen und die namenlose Masse derer, die diese Sprache nicht besaßen. Es war vorprogrammiert, dass Loest auch 1964 nach siebeneinhalb Jahren Haft in der DDR als Unperson galt. Kampagnen, Zensurmaßnahmen und die Verzögerung der Neuauflage seines 1978 endlich erschienenen und sofort vergriffenen Romans „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ waren die sichtbaren Zeichen. Der Roman ist einer der wichtigsten Prosatexte dieser Zeit, der in genauen Momentaufnahmen das Wesentliche über die gesellschaftliche Verfassung und darüber hinaus über historische Zusammenhänge aussagt. 1979 unterzeichnete Loest eine gegen die öffentliche Diffamierung Stefan Heyms gerichtete Petition und trat aus dem Schriftstellerverband der DDR aus. Die Folgen waren Bespitzelungen des Schriftstellers durch die Staatssicherheit.
Vorangegangen war am 17. November 1976, dass Wolf Biermann nach einem Konzert in Köln auf Einladung der IG Metall die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt wurde. Noch am gleichen Tag unterzeichneten zwölf DDR-Autor*innen einen offenen Brief gegen diesen Vorgang. Ihnen schlossen sich im Laufe weniger Tage über 70 weitere Künstler*innen und Intellektuelle an. Bereits wenige Jahre später hat sich die Biermann-Ausbürgerung als historische Zäsur in der kulturpolitischen Entwicklung der DDR erwiesen.
So ist auch zu verstehen, dass die spätere, in die DDR hineingeborene Schriftstellergeneration sich mehr und mehr dem System verweigerte. Heiner Müller sagte über sie: „Als sie erwachsen wurden, war dieser Sozialismus nicht mehr als ‚Hoffnung‘ erkennbar, sondern nur noch als deformierte Realität.“
Im Verlauf der späten 70er- und 80er-Jahre entwickelte sich die Literatur in der DDR zunehmend zu einem Medium deutlicher Zivilisationskritik.
Anfang der 80er Jahre erschien Christa Wolfs Roman „Kassandra“.
Diese Seherin ist die historische Frauengestalt der Zeitenwende vom Matriarchat zum Patriarchat und zeichnete sich aus durch die Modernität ihres Bewusstseins, die immer wieder Parallelen zur heutigen Frauen- und Friedensbewegung ermöglichte. Damit entwarf Christa Wolf ein anderes Bild von emanzipierter Frau.
Nicht wenige Schriftsteller*innen verließen teilweise unter politischem Druck bis hinein in die 80er-Jahre die DDR: u. a. der gerade verstorbene Günter Kunert und Erich Loest, Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch, Wolf Biermann und Siegmar Faust. Andere blieben und verweigerten sich. So der 1946 geborene Richard Pietraß, der in einem Gedicht provokativ formulierte: „Wir bauen kein Nest, keine Zelle des Staats. / Am Rande, am Rand ist immer Platz.“
Wie viele deutsche Literaturen gab es zu Ende der 80er-Jahre? Diese Frage hat zu heißen Diskussionen geführt und die literarischen Auseinandersetzungen in Folge der friedlichen Revolution begleitet. Vermutlich hatte der Ostberliner Schriftsteller Christoph Hein recht, wenn er darauf hinwies, dass etwa seine Biographie „drüben nicht denkbar“ wäre, „wie umgekehrt die Biographien von (Botho) Strauß oder Kroetz oder (Lothar) Baier in der DDR nicht denkbar sind, (…) solche Autoren kann man in der Tat nicht miteinander verwechseln oder gegeneinander austauschen.“
Im frühen Sommer 1990 brachte Christa Wolf eine kleine Erzählung heraus, „Was bleibt“, eine Stasigeschichte. Am 2. Juni erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein vernichtender Aufsatz von Frank Schirrmacher über Christa Wolf und ihr Verhältnis zum Staat DDR.
In Folge hatte Christa Wolf wenige Monate später in ihrer Rede an Hans Mayer, den Leipziger und Tübinger Gelehrten, ihre Sorge deutlich beschrieben: „Es wäre jetzt so wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Selten geschieht das. Ich verhehle meine Furcht nicht, dass in dem Vakuum, das durch Desorientierung entsteht, die Dämonisierung des unbekannten Wesens DDR weiter um sich greift, die teils mit Bedacht, teils aus Mangel an Kenntnissen in vollem Gange ist. (…) Wir müssen auf Konkretheit bestehen und aufpassen, dass uns nicht das Leben genommen wird, das wir wirklich geführt haben, und uns stattdessen ein verzerrtes Phantom untergeschoben wird.“ Auch jetzt, nach fast drei Jahrzehnten, sollte noch immer darauf geachtet werden.
Inzwischen waren nach Auflösung des Schriftstellerverbandes der DDR zu Beginn der 90er-Jahre rund 600 der in ihm organisierten Autorinnen und Autoren in den Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) eingetreten. Am 1. Oktober 1990 kooptierte der westdeutsche Vorstand des VS die DDR-Schriftsteller Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch und Joachim Walther als Vorstandsmitglieder. Uwe Friesel, damaliger VS-Vorsitzender, wurde nicht müde, zum Ost-West-Dialog der Schriftsteller*innen aufzufordern.
Den führte Erich Loest wortmächtig auf vielfache Weise weiter, als er mit großer Mehrheit 1994 zum Vorsitzenden des Verbands deutscher Schriftsteller*innen gewählt wurde.
Intensiv betrieb er die literarische Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen und weitete damit den Blick des nun gesamtdeutschen Verbandes über die eigenen Probleme hinaus. Hunderte von Lesungen polnischer Autor*innen in Deutschland, Symposien und Übersetzungen polnischer Literatur waren die neu gewachsenen Möglichkeiten.
So setzte jeder der nachkommenden VS-Vorstände seine eigenen kulturpolitischen Akzente. Immer waren seit dieser Zeit auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller der östlichen Bundesländer in den Vorständen vertreten. Und ich wünsche mir, dass diese gute Tradition, die eine wichtige Verständigungsebene schafft, nicht der Vergangenheit angehören wird.
Literaturtipp der Redaktion: Eine Projektgruppe am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam untersuchte das Wirken des Literaturinstituts Johannes R. Becher wissenschaftlich. Die Studie ist als Buch erschienen: "Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stopka: Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur 'Johannes R. Becher'", Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 592 S., 34,90 Euro
Autorin: Regine Möbius
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