Eine dreiviertel Million von der Politik häufig und gern als demokratie- und somit als systemrelevant bezeichnete Erwerbstätige in Kultur und Kunst können seit Monaten ihren Beruf aufgrund der Coronapandemie nicht ausüben. Die Politik beschwört einen „Neustart“. Die Kreativen sind dabei trotz Bereitstellung einer „Kulturmilliarde“ erneut kaum mehr als schöne Worte wert.
30. Juni 2020 von Anja Bossen
719.106 Künstler*innen – das ist die Zahl aller in Deutschland tätigen selbstständigen Kulturschaffenden aus verschiedenen Sparten, die die aktuell erschienene Studie „Frauen und Männer im Kulturmarkt“ ausweist – bleibt in der Coronakrise nur der Weg in die Grundsicherung. Solo-Selbstständige sind nach den Eckpunkten zur geplanten neuen Überbrückungshilfe, auf die sich die Bundesregierung am 12. Juni verständigt hat, auch weiterhin von einem Unternehmerlohn und der Anerkennung von Lebenshaltungskosten ausgeschlossen; beides gilt als „nicht förderfähig“. Wer zum Volk der ohnehin armen Künstler*innen gehört, kann also ruhig noch ärmer werden. Demokratierelevant bleibt die Kultur ja trotzdem. Und dass die Mehrheit der Kulturschaffenden in einen Streik tritt und einfach nichts mehr produziert, ist nicht zu befürchten.
Tatsächlich ist gar das Gegenteil zu beobachten: Künstler*innen versuchen mit aller Kraft, ihre Angebote digital ans Publikum zu bringen und selber sichtbar zu bleiben, auch unter Hartz IV-Bedingungen. Das Publikum wird also von den miserablen sozialen und finanziellen Bedingungen, unter denen die Künstler*innen schon vor der Coronakrise arbeiten mussten und die sich nun noch weiter verschlechtern, auch weiterhin nichts bemerken. Die Politik mitnichten, denn alles läuft weiter, so gut es eben mit Corona geht.
Dass allerdings auch Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, die Hartz-IV-Zumutungen nicht als wirklich problematisch ansieht*, ist überraschend und wirft die Frage auf, wessen Interessen der Kulturrat eigentlich vertritt und wie. Statt ein durch und durch menschenunwürdiges System zu hinterfragen, sollen sich die auch von Zimmermann immer wieder als „gesellschaftsrelevant“ titulierten Künstler*innen doch bescheiden und grundgesichert fühlen – so, wie etwa vier Millionen andere Hartz-IV-Bezieher*innen hierzulande auch. Diese Einstellung des Kulturratsprokuristen, der selbst vermutlich nie auch nur in die Nähe von Hartz IV gekommen ist, ist höchst irritierend. Aber auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat mit dieser Benachteiligung sichtlich kein Problem. Wiederholt preist sie den erleichterten Zugang zur Grundsicherung an, die für viele Künstler*innen sogar günstiger sei als andere Formen staatlicher Hilfen. Statt Anerkennung der besonderen Lebens- und Arbeitssituation von Kreativen in Form passender Hilfen soll es nun einen von der Bundesregierung ins Leben gerufenen Kulturinfrastrukturfonds geben, für den sich auch der Kulturrat stark gemacht hat.
So positiv die Idee der Kulturrettung grundsätzlich ist, sollen damit offenbar aber nur Kulturstätten gerettet werden und nicht die Künstler*innen selbst, die diese Stätten seit Monaten weiterhin mit Leben füllen, indem sie digital vor leeren Rängen auftreten und dafür nach wie vor viel Begeisterung aus der Politik ernten.
Doch die übliche verbale Euphorie, mit der die Künstler*innen nicht erst seit Corona bedacht werden, reicht nicht zu einem würdigen Leben. Es wird allerhöchste Zeit, dass das offenbar selbst bei kulturpolitisch Tätigen fest verankerte romantische Bild des „armen Poeten“ gründlich aus den Köpfen verschwindet. Eine entsprechende Umsetzung des geplanten Kulturinfrastrukturfonds wäre ein Anfang: ein echter Neustart der Kultur, bei dem tatsächlich etwas bei denen ankommt, die selbstständig – und in diesem Status häufig auch im Auftrag von Kulturinstitutionen – Kunst machen. Noch wäre Zeit, die Weichen neu zu stellen.
Zusatz der Redaktion: ver.di fordert Nachbesserungen zugunsten der Kreativen beim Soforthilfeprogramm „Neustart Kultur“. Das tun auch Tausende Freiberufler*innen, Solo-Selbstständige und Künstler*innen mit einem offenen Brief.
In seiner Kolume „Zumutung“, mit der Herausgeber Olaf Zimmermann die Ausgabe 7-8/2020 der Kulturratszeitschrift „Politik & Kultur“ einleitet, heißt es u. a.: „Der Verweis auf die Grundsicherung wird von Künstlerinnen und Künstlern oftmals als eine Zumutung empfunden. Trotz aller berechtigten Kritik an der Grundsicherung, der erleichterte Zugang zu diesem sozialen Sicherungssystem ist keine Zumutung, er ist ein Segen.
Wäre man nicht diesen Weg gegangen, hätten Tausende Künstlerinnen und Künstler ihre Wohnungen und damit oft auch ihre Arbeitsorte verloren und manche unter ihnen hätten sogar, mitten in Deutschland, Hunger leiden müssen. Die Argumentationen von manchen, die sagen, der Verweis auf die Grundsicherungen sei eine Frechheit, vergessen, dass wir diese 'Zumutung' unter erheblich erschwerteren Voraussetzungen seit vielen Jahren mehr als vier Millionen Menschen in unserem Land zumuten.“
Die Autorin: Dr. Anja Bossen ist Kunst- und Kulturbeauftragte bei ver.di.
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