#TakeThat, das 65-Millionen-Programm zur Förderung von Künstler*innen und Gruppen in der freien Theater-, Perfomance- und Tanzszene, startete im Oktober 2020 mit großen Erwartungen. Inzwischen sind die Mittel vergeben, weiß Holger Bergmann, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste. Wie es nun mit #TakeHeart bei der Stabilisierung und Förderung mit NEUSTART-KULTUR-Mitteln weitergeht und was die freie Theaterszene perspektivisch sonst brauche, erzählt er im Gespräch.
1. Juli 2021 von Helma Nehrlich
kuk: Das #TakeThat-Programm war als Rettungspaket für Überleben und Weiterentwicklung der freien darstellenden Künste angelegt und in Unterprogramme und genrespezifische Kategorien zielgenau aufgeteilt. Und es sollte schnell und möglichst unbürokratisch helfen. Ist das Ziel aufgegangen?
Holger Bergmann: Sehr gut. Wir haben seit Oktober letzten Jahres insgesamt 7.750 Anträge auf Förderung erhalten. Sie sind inzwischen alle bearbeitet, nichts ist mehr offen. 4.055 Anträge wurden positiv beschieden, die Künstler*innen oder Gruppen werden gefördert. Gut 32 Millionen Euro, also die Hälfte der zur Verfügung stehenden Mittel, sind bereits bei den Betroffenen angekommen. Bis Ende September sollte das Geld komplett ausgereicht sein.
Das ist eine gute Bilanz!
Ja, ist es, auch im Vergleich zu anderen Förderinstitutionen. Das war auch sehr wichtig. Es ging schließlich um ein Rettungs- und Stabilisierungspaket. Und dass so viele qualifizierte Anträge gestellt wurden und bewilligt werden konnten, zeigt auch, dass die freie Theaterszene immer noch lebt und arbeitet. Die Künstler*innen sind trotz Corona da und man sieht sie auch… Die Nachfrage war insgesamt gut verteilt. Erwartungsgemäß am stärksten nachgefragt wurde die Förderung von Arbeitsprozessen – #TakeAction hatten wir den genrespezifisch unterteilten Programmteil genannt.
Die Förderung wirkt bundesweit?
Das belegt eine weitere Zahl aus unserer Statistik: Über alle Bundesländer hinweg wurden etwa 50 Prozent der beantragten Projekte auch gefördert. Die Jury hat konsequent darauf geachtet, nicht nur die Leuchttürme und Ballungsräume in den Blick zu nehmen. An konkreten Beispielen: Aus Sachsen-Anhalt sind 114 Anträge gestellt und 56 davon gefördert worden. Oder in Mecklenburg-Vorpommern wurden 41 von 69 Anträgen befürwortet. Von den 61 Antragsteller*innen in Thüringen werden 33 tatsächlich gefördert. Nur zum Vergleich: In Berlin gab es 2.658 Anträge, bewilligt wurden 1.462. Überall liegen wir also um die 50 Prozent, nicht nur in den großen Metropolen. Die Ermutigung gilt für alle gleichermaßen.
Der Fonds als Organisator hat offenbar auch gut gearbeitet.
Unbedingt. Wir haben unser Team ja von fünf auf jetzt 18 Beschäftigte aufgestockt, da war zugleich viel Anlern- und Einarbeitungsenergie aufzubieten – weitgehend unter Coronabedingungen. Also, wir haben den Geist der freien Szene – „geht nicht, gibt’s nicht“ – in unserem Bereich durchaus mitpraktiziert.
Und qualitativ, was lässt sich da über die Förderprojekte sagen?
Wir bilanzieren eine Vielzahl neuer Ideen und Formate. Oft liegen sie an Schnittstellen zwischen Live-Programmen und digitaler Vermittlung. Hier ist Neues entstanden, das sicher nicht so einfach wieder verschwindet. Dass ein Publikum mit dem Handy auf eine Vorstellung reagieren kann, während sie noch läuft, zum Beispiel. Auch Programmeinführungen oder Nachbesprechungen im Chat sind neue Formen, die Potenzial haben. Ganz zu schweigen von den vielen Konferenzformen oder Tools, die für Abstimmung und Meinungsaustausch entwickelt wurden. Etliches davon wird sicher bleiben oder Künftiges inspirieren.
Als Seismografen der Gesellschaft, sozusagen?
Durchaus. Unsere Künstler*innen haben schon aufgespürt, wo die Themen der nächsten Zeit liegen: Etliche Gruppen bemerken eine Art von bleibender Beschädigung im sozialen Miteinander. Die Schulen stellen ja verstärkt fest, dass Kompetenzen nicht nur über Lerninhalte, sondern auch über Netzwerke und soziale Strukturen vermittelt werden. In der Theaterszene arbeiten etliche Gruppen daran, über Gemeinschaft, direkte Begegnungen, wieder positive Erfahrungen und Freude zu vermitteln. So etwas braucht das Publikum jetzt offenbar …
Die Pandemie ist nicht vorbei und die freie Szene längst nicht dauerhaft gesichert. Die Kulturstaatsministerin hat die NEUSTART-KULTUR-Mittel aufgestockt. Und Sie kümmern sich auch um längerfristige Perspektiven?
Die schwierige Zeit steht noch vor uns, in der die Mittel aus den Kommunen knapp zu werden drohen, die Länder Sparpläne durchdrücken werden und auch der Bund schuldenbewusster in die Kassen schauen wird. Das Geld ist aber nur die eine Seite. Spannend wird auch die Frage: Wie kommt ein Publikum zurück? Das stellt sich gerade allerorten nicht so einfach dar. Grundsätzlich wird man erneut über die Bedeutung von Theater und darstellender Kunst, speziell der freien Szene, nachdenken müssen. Ich bin überzeugt, dass man diese Kunst- und Theaterlandschaft noch eine ganze Zeit weiter stützen muss, bis sie das bereits gewohnte Maß wieder erreicht haben wird. Deshalb haben wir mit dem Bund und den Ländern gemeinsam sechs neue Förderlinien vereinbart, die aus dem NEUSTART-KULTUR-Budget zusätzlich ermöglicht werden. Sie knüpfen an das bisherige Förderpaket an, zielen aber noch stärker auf Perspektive.
Im Einzelnen?
Zuerst gibt es eine stipendienartige Recherche-Förderung, die Einzelpersonen ein längeres Arbeiten an der eigenen künstlerischen Qualifizierung ermöglichen soll. Die bewährte Residenzen-Förderung an 40 verschiedenen Produktionsorten in der gesamten Bundesrepublik kann real oder digital fortgeführt werden. Es gibt weiterhin auch die Förderung von Arbeitsprozessen in den verschiedenen Sparten, die nicht unbedingt nur direkt zu einer Produktion oder Aufführung hinführen müssen. Neu aufgelegt wird eine Wiederaufnahme-Förderung. Die soll ermöglichen, dass in letzter Zeit Entstandenes, was vielleicht das Publikum gar nicht mehr richtig erreicht hat, im Theaterraum oder an anderen Orten wieder oder erstmals richtig gezeigt werden kann. Darüber hinaus wird es eine Netzwerk-Förderung geben, die bundesländerübergreifende Aktivitäten im Blick hat. Hier geht es um Austausch und Verständigung innerhalb von Sparten, aber auch zwischen Ensembles und Gruppen. Die sechste Linie betrifft schließlich unsere Konzeptions-Förderung. Sie soll über drei Jahre laufen. Ein Jahr davon mit erhöhten Mitteln aus dem NEUSTART-Topf. Danach soll sie in unsere reguläre Förderung übergehen und noch zwei Jahre weitergeführt werden.
Und wann genau startet das neue Programmpaket?
Das steht leider noch nicht endgültig fest, die Abstimmungen laufen noch. Es wird auf jeden Fall zwei Vergabezeiträume geben, eine Antragsphase für Herbst/Winter und eine voraussichtlich im Frühjahr 2022. Wir reden hier über eine Fördersumme von etwa 60 Millionen Euro.
Alle Programmlinien erhalten wieder klangvoll englische Kurzbezeichnungen?
Englisch ja, aber das gesamte Paket heißt diesmal #TakeHeart. Wir haben es nicht auf Spezialnamen gebracht, weil es nicht mehr das Rettungspaket ist, sondern eine Normalität von Förderung zurückbringen soll. Es geht darum, sich ein Herz zu fassen, Mut zu haben, wieder aufzutreten, sich dem Publikum zu stellen und Kunst zu präsentieren.
Mut braucht es wahrscheinlich auch von anderen Akteur*innen?
Ja, wenn es darum geht, diese Szene nicht allein zu lassen, sondern ihr weiter mit Förderung unter die Arme zu greifen. Deshalb war die Abstimmung unsererseits nicht nur mit dem Bund sondern auch mit den Ländern sehr wichtig. Die NEUSTART-Mittel sind bis Ende 2022 begrenzt, die geförderten Projekte müssen bis dahin abgeschlossen sein. Doch wollen wir die Perspektive durchaus auf eine Stabilisierung der freien darstellenden Künste in den nächsten Jahren ausweiten. Diese Frage werfen wir jetzt auf, auch mit Blick auf eine neue Bundesregierung. Tatsächlich wäre es natürlich sehr sinnvoll, wenn der Bund – nicht als Eingriff in die Kulturhoheit, sondern mit Ländern und Kommunen abgestimmt – eine Förderperspektive im ähnlichen Umfang wie jetzt für einige weitere Jahre eröffnen würde.
Dafür schaffen Sie selbst auch Voraussetzungen, indem der Fonds ein umfangreiches wissenschaftliches Forschungsprogramm* initiiert, das noch in diesem Jahr Ergebnisse bringen soll. Worauf zielt es grundsätzlich ab?
Etwas verallgemeinert gesagt, sind in der freien Kunstszene alle Förderungen seit den 1970ern bis in die 1990er-Jahre entstanden. Als die „Kultur für alle“ großgeworden ist. Angefangen hatte das in den Kommunen, später haben die Länder ebenfalls Mittel bereitgestellt, schließlich auch der Bund. Das geschah „naturwüchsig“, nie aufeinander abgestimmt. Dabei entstanden sind sowohl der sogenannte „Förderdschungel“ als auch eine äußerst vielfältige, resiliente freie Theaterszene. Wenn man diese Szene nun als so wichtig für die Kulturlandschaft ansieht, wie der Bund das ja jetzt getan hat, dann muss man dafür sorgen, dass sich dieser Kunstsektor auf Augenhöhe mit den anderen Sektoren auch künftig entwickeln kann. Dazu müsste das naturwüchsig-frei entstandene tolle System nun auch in ein Sicherungsnetz eingebunden werden. Das sollte flexibel und stabil zugleich sein. Denn es müsste weiter freies Produzieren, aber auch Planungssicherheit und eine soziale Absicherung bis hin zur Familienplanung ermöglichen. Um das wissenschaftlich fundiert herauszufinden und eine Grundlage für weitere Debatten zu liefern, haben wir die Forschungen initiiert, die in einer Studie münden sollen, die Anfang November bei einem Symposium in der Akademie der Künste vorgestellt werden soll.
Quasi als Handlungsempfehlung für die Politik?
Das wäre zu einfach. Wir müssen auf dieser Basis ins Gespräch und in einen sinnvollen Austausch kommen. Das wäre das Ziel. Veränderung ist ein Prozess, da machen nicht die einen Vorschläge und die anderen hören zu. Das hat sich schon bei den Debatten gezeigt, die es in Vorbereitung der Veranstaltung und der Broschüre TRANSFORMATIONEN gab, die der Fonds jetzt herausbringen wird. Da gibt es neben zehn kulturpolitischen Positionen auch dezidierte Positionen von Künstler*innen und die Meinung von Fachjournalist*innen. Wir brauchen eigentlich einen längerfristigen Argumentationsaustausch, der Phasen des Nachdenkens einschließt. Der Prozess sollte nicht gegen jemanden gerichtet sein, sondern eben auf Veränderung zielen.
Um ähnliche Fragen wird es zuvor bereits auf dem Bundesforum der freien darstellende Künste gehen. Allerdings da noch etwas umfassender?
Ja, dazu sind vom Bündnis für freie darstellende Künste auch Kulturpolitiker*innen und Vertreter*innen der Kunst- und Förderpraxis eingeladen. Es gibt kein eng umrissenes Ziel, außer den Austausch und die Bestandsaufnahme rund um den NEUSTART KULTUR. Was ist nötig, Kunst in und nach der Krise zu erhalten, die Szene zu stabilisieren? Da geht es gar nicht allein um Förderung, das betrifft auch andere gesetzgeberische Bereiche wie die Sozial- und Steuergesetzgebung. Aber auch Produktionsstrukturen. Schließlich geht es bei der Suche nach Lösungen immer auch um das Verständnis von freier Kunst als kreativen Arbeitsprozess. Und um die Breite und Vielfältigkeit der gesamten Landschaft. Die ist jetzt dank unserer #TakeThat-Förderungen besonders offenbar geworden, und sie reicht weit über das hinaus, was bisher mit klassischen Interessenvertretungen und im theaterwissenschaftlichen Kontext bereits erfasst ist. Das bietet natürlich auch Chancen, die genutzt werden sollten. Genauso wie die Ausprägung von Theater als diskriminierungsfreiem Kulturort. Das gilt sowohl für das Publikum als auch hinsichtlich angstfreier Arbeitsbedingungen für die Akteur*innen. Über all das wird vom 14. bis 16. September sowohl analog in Berlin als auch digital zu debattieren sein.
Wir wünschen für alle diese wichtigen Vorhaben viel Kraft und gutes Gelingen!
* Das Forschungsprogramm zur Förderung der freien darstellenden Künste unter Beteiligung renommierter Wissenschaftler*innen und Expert*innen verschiedener Universitäten und Einrichtungen unter der Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Schneider (Vorstandsvorsitzender des Fonds) umfasst folgende Themen:
Die Autorin: Helma Nehrlich arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
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